Page 41 - Gehaltvoll 11.1
P. 41
Eine autoethnographische Studie zu Gebet und Ge-
meindeaufbau. Interview mit Christine Reibenschuh
Maitland, Schweiz
Christine Reibenschuh, Dr. theol., bin. Meine eigene Geschichte und Christine: Die geschilderten Ge-
Jahrgang 1961, ist Gemeindepfar- mein Predigen und Lehren als betsgeschichten sind nicht gerad-
rerin in Hittnau/CH und Mit- Pfarrerin haben viele der Interview- linig verlaufen. Da gab es Brüche
leiterin im Institut im Reusshaus, partner direkt, bewusst oder auch und Fragen, Distanzierung vom
Luzern. In ihrer Dissertation 2020 unbewusst mitgeprägt. Zudem Glauben und dem Gebet und
an der Theologischen Fakultät der gehören alle Teilnehmenden auch dann wieder ein Neufinden. Und
Universität Zürich verfolgt sie den der gleichen Kirchenkultur an. gerade diese meist als krisenhaft
Zusammenhang von Gebet und Fast alle sind mehrheitlich in einer erlebten Phasen werden im Rück-
Lebensvollzug, Gebet und (Laien-) deutschschweizerischen, reformier- blick als Reifezeiten erlebt und als
Theologie und Gebet und Ent- ten Gemeinde sozialisiert worden. bereichernd bewertet. Eindrück-
wicklung von Gemeinschaft. lich ist zum Beispiel die Erfah-
Wenn die Biographie der Autorin rung des jungen Mannes Lu. Er
Werner: Vielen Dank, Christine, mit derjenigen der Interviewpart- schildert, wie er nach einem gro-
für dieses Interview und natürlich ner zutiefst verwoben ist, ist es ßen Verlust mit Gott streitet und
für Ihre Dissertation und all die Ar- wichtig, dass die Erfahrungen und ihn für seine Not verantwortlich
beit, die dahintersteht. Anliegen der Forscherin nicht ein- macht, wie er aber im Verlauf der
fach stumm und heimlich im Hin- Zeit die Erfahrung macht, dass er
Für das Thema dieser ge|halt|voll- tergrund, gleichsam als unsicht- bei Gott nicht vergessen ging, und
Ausgabe haben mich zunächst vor barer Film, mitlaufen. Die eigene dadurch die Krisenerfahrung letzt-
allem die Interviews interessiert, Biographie muss, soweit sie für die lich zu einer Festigung seines Ver-
die Sie im Rahmen Ihrer For- Forschungsarbeit relevant ist, of- trauens beitrug.
schungsarbeit geführt haben, und fengelegt werden.
deren Auswertung. Am theoreti- Ich zitiere einmal aus seinem Pro-
schen Teil zu einer Gebetstheologie Diese Integration von autobiogra- tokoll
aus theologischer und philosophi- phischen Teilen in einer ethnogra-
scher Sicht finde ich bemerkens- phischen Arbeit heißt Autoethno- „Christine: Hast du irgendwie be-
wert, dass Sie Laientheologie, das graphie. sondere Gebetserlebnisse, wo du die
heißt, wie nicht theologisch Gebil- Nähe Gottes spürtest, oder wie – ja,
dete ihre Erfahrungen deuten und Werner: Ich greife jetzt einmal eben da kommt man an die Gren-
mitteilen, im Wechselspiel zur aka- einen Punkt heraus, der für mich ze der Sprachfähigkeit – wo du wie
demischen Theologie durchaus als spannend war zu lesen. Sie be- wusstest, er ist da.
gegenseitig befruchtend betrach- zeichnen Gebet als einen Ort der Lu: Ja, das hat es gegeben, und zwar
ten. Veränderung und listen dazu fol- ist das eben nicht ein klassisches Ge-
gende Punkte auf: a) Dankbarkeit bet gewesen, sondern,… schon eine
Doch bevor wir auf die Interviews als Lebenshaltung b) Selbstreflexi- Kommunikation mit Gott, relativ
zu sprechen kommen, zunächst on c) Zurechtrücken der Dimen- lang eigentlich – und das aus Wut
eine kurze Frage: Was versteht man sionen d) Weisung-Weisheit zum heraus. Und dort habe ich das ge-
unter „autoethnographisch“? Die- Handeln e) Gebet als Ort der Ge- merkt gehabt, dass er doch jetzt ge-
ser Begriff ist mir bisher fremd. borgenheit f) Entlastung und Be- nau in dem Moment für mich da ist.
freiung durch Beten g) Auseinan- Christine: Also, du warst wütend
Christine: Die Interviews für dersetzung mit Gott auf Gott, oder auf jemand anders?
meine Studie habe ich mit Men- Bitte sagen Sie uns doch etwas zum Lu: Nein, eigentlich auf Gott, wegen
schen geführt, mit denen ich, die letzten Punkt: Auseinandersetzung eines grossen Verlustes, und er hätte
Forscherin, seit Jahren in der glei- mit Gott. das ja anders lenken können, darum
chen Kirchgemeinde unterwegs eigentlich rein auf ihn, ja.
41