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Eine  autoethnographische  Studie  zu  Gebet  und  Ge-

        meindeaufbau.  Interview mit Christine Reibenschuh

        Maitland, Schweiz






        Christine Reibenschuh, Dr. theol.,   bin. Meine eigene Geschichte und   Christine: Die geschilderten Ge-
        Jahrgang 1961, ist Gemeindepfar-    mein Predigen und Lehren als        betsgeschichten sind nicht gerad-
        rerin in  Hittnau/CH  und  Mit-     Pfarrerin haben viele der Interview-  linig verlaufen. Da gab es Brüche
        leiterin im Institut im Reusshaus,   partner direkt, bewusst oder auch   und Fragen, Distanzierung vom
        Luzern. In ihrer Dissertation 2020   unbewusst  mitgeprägt.  Zudem      Glauben und dem Gebet und
        an der Theologischen Fakultät der   gehören alle Teilnehmenden auch     dann wieder ein Neufinden. Und
        Universität Zürich verfolgt sie den   der gleichen Kirchenkultur an.    gerade diese  meist  als  krisenhaft
        Zusammenhang von Gebet und          Fast alle sind mehrheitlich in einer   erlebten Phasen werden im Rück-
        Lebensvollzug, Gebet und (Laien-)   deutschschweizerischen, reformier-  blick als Reifezeiten erlebt und als
        Theologie und Gebet und Ent-        ten Gemeinde sozialisiert worden.   bereichernd bewertet. Eindrück-
        wicklung von Gemeinschaft.                                              lich ist zum Beispiel die Erfah-
                                            Wenn die Biographie der Autorin     rung des jungen Mannes Lu. Er
        Werner: Vielen Dank, Christine,     mit derjenigen der Interviewpart-   schildert, wie er nach einem gro-
        für dieses Interview und natürlich   ner zutiefst verwoben ist, ist es   ßen Verlust mit Gott streitet und
        für Ihre Dissertation und all die Ar-  wichtig, dass die Erfahrungen und   ihn für seine Not verantwortlich
        beit, die dahintersteht.            Anliegen der Forscherin nicht ein-  macht, wie er aber im Verlauf der
                                            fach stumm und heimlich im Hin-     Zeit die Erfahrung macht, dass er
        Für das Thema dieser ge|halt|voll-  tergrund, gleichsam als unsicht-    bei Gott nicht vergessen ging, und
        Ausgabe haben mich zunächst vor     barer Film, mitlaufen. Die eigene   dadurch die Krisenerfahrung letzt-
        allem die Interviews interessiert,   Biographie muss, soweit sie für die   lich zu einer Festigung seines Ver-
        die Sie im Rahmen Ihrer For-        Forschungsarbeit relevant ist, of-  trauens beitrug.
        schungsarbeit geführt haben, und    fengelegt werden.
        deren Auswertung. Am theoreti-                                          Ich zitiere einmal aus seinem Pro-
        schen Teil zu einer Gebetstheologie   Diese Integration von autobiogra-  tokoll
        aus theologischer und philosophi-   phischen Teilen in einer ethnogra-
        scher Sicht finde ich bemerkens-    phischen Arbeit heißt Autoethno-    „Christine: Hast du irgendwie be-
        wert, dass Sie Laientheologie, das   graphie.                           sondere Gebetserlebnisse, wo du die
        heißt, wie nicht theologisch Gebil-                                     Nähe Gottes spürtest, oder wie – ja,
        dete ihre Erfahrungen deuten und    Werner:  Ich greife jetzt einmal    eben da kommt man an die Gren-
        mitteilen, im Wechselspiel zur aka-  einen Punkt heraus, der für mich   ze der Sprachfähigkeit – wo du wie
        demischen Theologie durchaus als    spannend war zu lesen. Sie be-      wusstest, er ist da.
        gegenseitig befruchtend betrach-    zeichnen Gebet als einen Ort der    Lu: Ja, das hat es gegeben, und zwar
        ten.                                Veränderung und listen dazu fol-    ist das eben nicht ein klassisches Ge-
                                            gende Punkte auf: a) Dankbarkeit    bet gewesen, sondern,… schon eine
        Doch bevor wir auf die Interviews   als Lebenshaltung b) Selbstreflexi-  Kommunikation mit Gott, relativ
        zu sprechen kommen, zunächst        on c) Zurechtrücken der Dimen-      lang eigentlich – und das aus Wut
        eine kurze Frage: Was versteht man   sionen d)  Weisung-Weisheit zum    heraus. Und dort habe ich das ge-
        unter „autoethnographisch“? Die-    Handeln e) Gebet als Ort der Ge-    merkt gehabt, dass er doch jetzt ge-
        ser Begriff ist mir bisher fremd.   borgenheit f) Entlastung und Be-    nau in dem Moment für mich da ist.
                                            freiung durch Beten g) Auseinan-    Christine: Also, du warst wütend
        Christine: Die Interviews für       dersetzung mit Gott                 auf Gott, oder auf jemand anders?
        meine Studie habe ich mit Men-      Bitte sagen Sie uns doch etwas zum   Lu: Nein, eigentlich auf Gott, wegen
        schen geführt, mit denen ich, die   letzten Punkt: Auseinandersetzung   eines grossen Verlustes, und er hätte
        Forscherin, seit Jahren in der glei-  mit Gott.                         das ja anders lenken können, darum
        chen  Kirchgemeinde  unterwegs                                          eigentlich rein auf ihn, ja.



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